Bereits vor einiger Zeit las ich das Buch „Psychologie der Massen“ von Gustave Le Bon (1841-1931). Das 1895 auf Französisch erschienene Buch (deutsche Übersetzung 1911) übte einen nachhaltigen Einfluss aus und „wurde auch von Politikern und Diktatoren des 20. Jahrhundert für die Ausarbeitung ihrer Propagandatechniken benutzt“ (so der Klappentext der 17. Auflage 2018, die vom Nikol-Verlag herausgegeben wurde; ISBN 978-3-86820-026-3).
In seinen Beispielen kommt der Autor immer wieder auf die Französische Revolution zu sprechen, und offensichtlich war er ein Bewunderer Napoleons (diesen Eindruck hatte ich zumindest beim Lesen). Auch wenn Le Bon eine anti-christliche Haltung einnimmt und seit Erscheinen seines Buches bereits über ein Jahrhundert vergangen ist, so halte ich es dennoch für lesenswert. Denn es zeigt nicht nur die Manipulierbarkeit der Massen auf, sondern es erklärt auch Mechanismen (wie und warum das funktioniert) und Techniken, die dabei eingesetzt werden. Aus dieser Perspektive gelesen kann es uns sensibilisieren, mögliche Manipulationsversuche besser bzw. schneller zu erkennen und die nötige Achtsamkeit walten zu lassen. Nachfolgend ein paar Kostproben, die Seitenzahlen sind der o.g. Ausgabe entnommen).
In seinem Kapitel über unmittelbare Triebkräfte der Anschauungen der Massen kommt Le Bon auch auf die Vernunft zu sprechen: „Bei der Aufzählung der Faktoren, die imstande sind, die Massenseele zu erregen, könnten wir uns die Erwähnung der Vernunft ersparen, wenn man nicht den negativen Wert ihres Einflusses aufzeigen müsste. Wir haben bereits festgestellt, dass die Massen durch logische Beweise nicht zu beeinflussen sind und nur grobe Ideenverbindungen begreifen. Daher wenden sich auch die Redner, die Eindruck auf sie zu machen verstehen, an ihr Gefühl und niemals an ihre Vernunft. Die Gesetze der Logik haben keinen Einfluss auf sie.“ (S. 108)
Im Kapitel „Die Führer der Massen und ihre Überzeugungsmittel“ schreibt er:
„Handelt es sich jedoch darum, der Massenseele Ideen und Glaubenssätze langsam einzuflößen, z. B. die modernen sozialen Lehren, so wenden die Führer verschiedene Verfahren an. Sie benutzen hauptsächlich drei bestimmte Arten: die Behauptung, die Wiederholung und die Übertragung oder Ansteckung (contagion). Ihre Wirkung ist ziemlich langsam, aber ihre Erfolge sind von Dauer.“ (S. 117)
„Die Behauptung hat aber nur dann wirklichen Einfluss, wenn sie ständig wiederholt wird, und zwar möglichst mit denselben Ausdrücken. Napoleon sagte, es gäbe nur eine einzige ernsthafte Redefigur: die Wiederholung. Das Wiederholte befestigt sich so sehr in den Köpfen, dass es schließlich als eine bewiesene Wahrheit angenommen wird.“ (S. 118)
„Wenn eine Behauptung oft genug und einstimmig wiederholt wurde, wie das bei gewissen Finanzunternehmungen der Fall ist, die jede Konkurrenz aufkaufen, so bildet sich das, was man eine geistige Strömung (courant d´opinion) nennt, und der mächtige Mechanismus der Ansteckung kommt dazu. Unter den Massen übertragen sich Ideen, Gefühle, Erregungen, Glaubenslehren mit ebenso starker Ansteckungskraft wie Mikroben.“ (S. 119)
Interessant ist auch das letzte Kapitel, in dem es um Parlamentsversammlungen geht:
„In den Parlamentsversammlungen finden sich die Grundmerkmale der Massen wieder: Einseitigkeit der Ideen, Erregbarkeit, Beeinflussbarkeit, Überschwenglichkeit der Gefühle, überwiegender Einfluss der Führer. Aber infolge ihrer besonderen Zusammensetzung weisen die parlamentarischen Massen einige Unterschiede auf. [...] Die Einseitigkeit der Anschauungen gehört zu den ausgeprägtesten Merkmalen dieser Versammlungen. Man trifft bei allen Parteien, namentlich der lateinischen Völker, die unveränderliche Neigung, die verwickeltsten sozialen Fragen durch die einfachsten begrifflichen Grundsätze und durch allgemeine Gesetze zu lösen, die in jedem Falle angewandt werden können.“ (S. 172)
„Die parlamentarischen Massen sind Einflüssen sehr zugänglich, und die Suggestion geht hier wie bei den übrigen Massen von Führern aus, die ein Nimbus umgibt.“ (S. 173)
„Führer sind offenbar notwendig, denn man findet sie als Parteihäupter in allen Ländern. Sie sind die wahren Herren der Versammlungen. Die Menschen, die in den Massen vereinigt sind, würden ohne Führer nicht fertig werden, und so zeigen die Abstimmungen im Allgemeinen nur die Anschauungen einer kleinen Minderheit. Ich wiederhole: die Führer wirken nur sehr wenig durch ihre Beweisgründe, sehr stark aber durch ihren Nimbus. Wenn irgendein Umstand ihn aufhebt, verlieren sie jeden Einfluss.“ (S. 174)
„Die Überredungsmittel der Führer sind, abgesehen von ihrem Nimbus, die Faktoren, die wir schon wiederholt aufgezählt haben. Um sie geschickt zu handhaben, muss der Führer, wenigstens unbewusst, die Psychologie der Massen erfasst haben und wissen, wie man zu ihnen zu sprechen hat. Vor allem muss er den bezaubernden Einfluss der Worte, Redewendungen und Bilder kennen. Er muss eine besondere Beredsamkeit besitzen, die aus energischen Behauptungen, die nicht zu beweisen sind, und eindrucksvollen, von ganz allgemeinen Urteilen umrahmten Bildern zusammengesetzt ist. Diese Art Beredsamkeit findet man in allen Versammlungen, das englische Parlament, das ausgeglichenste von allen, inbegriffen.“ (S. 176f).
„Der Erfolg einer Rede in einer Parlamentsversammlung hängt fast ausschließlich vom Nimbus des Redners ab, keineswegs von den Gründen, die er vorbringt. Der unbekannte Redner, dessen Rede gute Beweisgründe, aber nur Beweisgründe enthält, hat keine Aussicht, auch nur angehört zu werden.“ (S. 180)
Aufmerken lies mich ein Zitat aus Herbert Spencers Schrift „Der Einzelne gegen den Staat“: „Seit dieser Zeit hat die Gesetzgebung den Lauf genommen, den ich voraussagte. Diktatorische Maßnahmen, die sich rasch vervielfachten, haben das ständige Bestreben, die persönliche Freiheit zu beschränken, und zwar in zwiefacher Weise: jedes Jahr wird eine immer größere Anzahl gesetzlicher Forderungen erlassen, die der früheren Handlungsfreiheit des Bürgers Beschränkung auferlegen und ihn zu Handlungen zwingen, die er früher nach Belieben begehen oder unterlassen konnte. ...“ (S.186). - Interessant ist, wie Le Bon dieses Zitat kommentiert: „Diese immer mehr zunehmende Freiheitsbeschränkung zeigt sich in allen Ländern in einer besonderen Weise, auf die Spencer nicht hingewiesen hat: Die Schaffung jener unzähligen gesetzlichen Maßnahmen allgemein beschränkender Art führt notwendig zur Erhöhung der Zahl, der Macht und des Einflusses der Beamten, die mit ihrer Durchführung beauftragt werden. Sie haben also alle Aussicht, die wahren Gebieter der Kulturländer zu werden. Ihre Macht ist umso größer, als nur die Beamtenkaste, als einzige, die unverantwortlich, unpersönlich und auf Lebenszeit angestellt ist, dem unaufhörlichen Machtwechsel entgeht. [...] Die fortwährende Schaffung von Gesetzen und Beschränkungsmaßnahmen, die die unbedeutendsten Lebensäußerungen mit byzantinischen Förmlichkeiten umgeben, hat das verhängnisvolle Ergebnis, den Bereich, in dem sich der Bürger frei bewegen kann, immer mehr einzuengen. Als Opfer des Irrtums, dass durch Vermehrung der Gesetze Freiheit und Gleichheit besser gesichert würden, nehmen die Völker nur drückendere Fesseln auf sich. Sie nehmen sie nicht ungestraft auf sich. Gewohnt, jedes Joch zu tragen, kommen sie schließlich dahin, es „aufzusuchen“, und büßen zuletzt alle Ursprünglichkeit und Kraft ein. Sie sind nur noch wesenlose Schatten, Automaten, willenlos, ohne Widerstand und Kraft.“ (S. 186f).